Born to be Bäuerin: Vom Rock-Chick zur Stall-Queen

Luger Sabrina

Im Mai 2020 hat Julie Kosak alias @juliettegrotesque die Leder-Outfits an den Nagel gehängt und die Gummistiefel angezogen. Seither betreibt sie gemeinsam mit ihrem Freund einen Bauernhof im Schwarzwald. Und ist sich sicher: Es hätte ihr nichts Besseres passieren können.

Sie führte ein eigenes Modelabel, ist mit Bands und Künstlern durch die Festivalsaison getourt, hat Bars geleitet und war zuletzt Marketingmanagerin in der Gastro-Branche: Julie Kosak, 26 Jahre alte, waschechte Wienerin, hat schon immer gern Neues ausprobiert. Seit Mai 2020 ist ihr Job aber ganz anders als alles, was davor war. Waren die Gummistiefel früher nur im Festival-Gatsch im Einsatz, sind sie heute das (fast) erste, was Julie morgens anzieht: Gemeinsam mit ihrem Freund Sven, im „alten Leben“ Restaurantmanager in der Wiener Innenstadt, lebt und arbeitet sie nun auf dem Hof von Svens Eltern in Freiburg im deutschen Baden-Württemberg. Ein Plan, der nicht von heute auf morgen kam – und irgendwie dann doch.

Reportagen vom Bauernhof statt Serien auf Netflix

Die Frage, wie man nachhaltig leben und Landwirtschaft betreiben kann, beschäftigt Julie und Sven schon lange, der Umzug auf den Bauernhof war aber kaum mehr als ein Luftschloss. Bis Svens Papa den Bauernhof abgeben will. Tja, und dann „kam auch noch Corona.“

Im Mai 2020 packen Sven und sie vier Monate früher als geplant die Koffer und ziehen nach Baden-Württemberg. „Uns war klar: Jetzt oder nie. Wir haben Tag und Nacht YouTube-Reportagen über Landwirtschaft geschaut, Blogs gelesen und uns auf Social Media mit anderen jungen Landwirten ausgetauscht.“ Julie hat keinerlei Landwirtschaftserfahrung, Sven ist zwar am Hof aufgewachsen und besitzt auch den Traktorführerschein, hat nach seiner Jugend aber nicht viel mit dem Bauernhof zu tun gehabt. Geholfen hat das Wiener Sentiment: „Ich dachte mir, ach, das geht scho irgendwie!“ Und es ging.

Dauer-Muskelkater und richtig große Maschinen

Julie sagt heute: „Ich glaube, niemand kann sich wirklich drauf vorbereiten, was es heißt, sieben Tage die Woche um 6 Uhr aufzustehen. Da muss man ins kalte Wasser springen.“ Oder sich vom Senior-Bauer stoßen lassen: „Ich hab nicht mal einen Auto-Führerschein. In der ersten Woche hat mir Svens Papa kurz den Traktor erklärt und meinte dann ‚So, und jetzt fährst du Holz verladen."

„Beim Baumfällen geht mir immer noch der Reis!“

100 Hektar Land bewirtschaften Julie und Sven seit einem Jahr gemeinsam mit Svens Vater. Der Hof liegt im UNESCO Biosphärengebiet Schwarzwald, teilweise haben die Flächen 25 Prozent Hangneigung. „Wenn du da die Kühe umkoppelst und sie runter treibst und dann drauf kommst, dass noch eine oben ist … Das erste halbe Jahr war von Muskelkater geprägt“, lacht Julie.

Unsicherheiten im Umgang mit den Tieren gab es anfangs einige: „Wenn du dann allein als 1,65 Meter großes Mädel in so einer Kuhherde stehst und selber den Ton angeben musst, während du im Hinterkopf hast ‚Scheiße, die trampeln mich jetzt gleich alle nieder!‘“. Die Tiere kann sie mittlerweile einschätzen, vor den Maschinen hat sie immer noch Respekt, erzählt Julie: „Beim Bäume Fällen geht mir immer noch der Reis!“

Direktvermarktung, Hühnermobil und Hofautomat: 12 Monate Bauern-Business, die viel verändert haben

Dass die Bauernhof-Romantik vom selbst angebauten Gemüse und der kuhwarmen Milch zum Frühstück nur ein Bruchteil ihres zukünftigen Lebens sein wird, war Julie und Sven von Anfang an klar. Schon kurz nach ihrer Ankunft im Schwarzwald ging es mit großen Schritten in Richtung Ziel: nachhaltige Landwirtschaft für Mensch und Tier. „In der ersten Woche kam der Transporter, um Tiere abzuholen. Da haben wir gleich mal Stopp gesagt.“ Seit einem Jahr werden keine Kälber mehr verkauft. Stattdessen haben die beiden eine Direktvermarktung gestartet und arbeiten dafür mit einer kleinen Metzgerei in der Nähe zusammen. Mittlerweile werden eigene Wurstprodukte hergestellt, es gibt einen Hofautomaten, der zusätzlich auch Eier und Apfelsaft anbietet und eine Website ist im Aufbau.

Auch der Tierbestand ist gewachsen: Aus den sechs Hühnern, die es zu Beginn am Hof gab, sind 230 geworden. Daneben leben noch Zackelschafe und natürlich die Vorderwälder-Rinder auf dem Hof.

„Das Leben auf dem Land hat eine ganz eigene Freiheit. Du hast wahnsinnig viel zu tun, aber du hast nie Stress.“

Wer es schafft, auf einem Rockfestival Look-technisch aufzufallen, der zieht am Land erst recht die Blicke auf sich – dass sie mit ihren vielen Tattoos, ihrer Liebe zu Make-up und außergewöhnlichen Outfits und nicht zuletzt dem Wiener Schmäh nicht die stereotype Bäuerin abgibt, ist Julie klar. Und freut sich umso mehr, dass die Leute in Freiburg sie mit offenen Armen aufgenommen haben, denn „davor hatte ich die größte Angst“. Freunde und Familie sorgten sich da schon eher um Julies geliebte Reise-Freiheit – vierwöchige Trips nach Bali spielt’s auf Grund der Verantwortung für Hof und Tiere jetzt nicht mehr.

Eingesperrt fühlt sich Julie aber in ihrem „neuen“ Leben keineswegs: „Das Leben auf dem Hof hat eine ganz eigene Freiheit. Du hast zwar wahnsinnig viel zu tun, aber nie Stress.“ Nachsatz: „Oder fast nie“.

Ein neues (Social Media-)Leben: Kälbchen-Kuscheln statt Rock-Posen

Einen Teil ihrer rund 37.000 Follower auf Instagram hat Julies Umzug auch nicht ganz geschmeckt: Wo vorher inszenierte Fotos mit viel Make-up und gemachten Nägeln zu sehen waren, gibt’s jetzt ungeschminkte Looks mit Gummistiefeln.

Einen ganzen Schwung Follower hat Julie schon kurz nach dem Umzug auf den Bauernhof verloren. Aber es kommen viele neue hinzu. Welcher Content jetzt die meisten Likes bekommt? Die täglichen Kälbchen-Videos und die Kuh-Kuschelvideos.

Ein Sache fällt beim Account von Julie alias @juliettegrotesque besonders stark auf: Julie wirkt angekommen. Und fühlt sich auch so, sagt sie: „Es war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.“ Eine Sache vermisst sie aber trotzdem an der alten Heimat Wien – und die ist mindestens so sehr Klischee wie der Gedanke an die kuhwarme Frühstücksmilch: „Ich bin regelmäßig ins Café Hawelka auf eine Melange und einen Apfelstrudel gegangen. Das fehlt mir sehr. Und die grantige Mentalität. Hier in Freiburg scheint fast immer die Sonne, die Leute sind gut gelaunt und ehrlich freundlich. Da würde ich mir ab und zu schon wünschen, dass einer sagt ‚Heast, geh scheißen!‘“.

Titelbild: © Julie Kosak